Methodische Aufbereitung für den Unterricht
Auf dieser Seiten sollen in einer komprimierten Übersicht die wichtigsten Grundlagen für ein genaueres Verständnis der in dieser Untersuchung vorgestellten Psalmlieder sowie für das eigene Nachkomponieren im Stile von Orlandus und Rudolphus Lassus zusammenfassen. Dabei wird nicht auf die Grundlagen des Renaissance-Kontrapunkts eingegangen, die bei Johannes Menke1 oder Thomas Daniel2 nachgelesen werden können. Diese Seite richtet sich also an Studenten, die bereits den zweistimmigen Kontrapunkt studiert haben und sich nun, wie es die Studienordnungen oft vorschreiben, mit dem dreistimmigen Kontrapunkt beschäftigen wollen. Es soll dabei vor allem demonstriert werden, dass in den Psalmliedern nach Lassus viele der Parameter wie Ambitus-Überschreitungen, die cantus-firmus-Behandlung oder auch die Imitationen oft gar nicht so streng umgesetzt werden, wie man vermuten würde. In angemessenem Umfang kann mit ihnen durchaus frei umgegangen werden.
Wenn für eigene Stilkopien kein cantus firmus gegeben ist, oder in einem eher freien und vom cantus firmus losgelösteren Stil komponiert werden soll, kann ein geeigneter Modus nach den folgenden Kriterien ausgewählt werden:
- Es können prinzipiell fast alle 6 authentischen Modi von Glarean3 verwendet werden. Lydisch ist die einzige Ausnahme und kommt nie vor.
- Dorisch ist bei weitem der am häufigsten verwendete Modus. Vergleichsweise oft wird auch Ionisch eingesetzt, einige Psalmlieder sind in Phrygisch – wenn es der cantus firmus erfordert –, selten auch in Mixolydisch oder Æolisch verfasst.
- Für Dorisch und Ionisch können auch die transponierten Modi verwendet werden. Phrygisch kommt allerdings nur über e vor.
Wenn die Stimmendisposition mit alten Schlüsseln richtig gewählt ist, ergibt sich der korrekte Ambitus automatisch, wenn man die Regel beachtet, dass nur Noten gesetzt werden, die innerhalb des Notensystems stehen und maximal eine Hilfslinie oberhalb oder unterhalb des Systems benötigen. Bei Verwendung von modernen Schlüsselungen sollte man sich zunächst die Stimmendisposition und den Ambitus verdeutlichen.
Für die Stimmendisposition werden grundsätzlich zwei mögliche Varianten unterschieden:
Drei unterschiedliche Stimmen
Es gibt vier Möglichkeiten, alle Stimmen mit unterschiedlichen Schlüsseln zu setzen: Sopran – Alt – Tenor, Violin – Sopran – Alt, Violin – Mezzosopran – Alt und Sopran – Mezzosopran – Tenor (sortiert nach Häufigkeit). Die Ambitus für diese Schlüsselkombinationen sind immer abwechselnd, also authentisch – plagal – authentisch oder plagal – authentisch – plagal.
Zwei gleiche Stimmen
Auch für die zweite Variante, zwei der Stimmen mit dem gleichen Schlüssel zu setzen, bieten sich vier Möglichkeiten an: Sopran – Sopran – Tenor, Violin – Violin – Alt, Sopran – Sopran – Alt und Violin – Violin – Mezzosopran (sortiert nach Häufigkeit). Liegen die beiden Schlüssel eine Septime auseinander (SST, VVA), sind die Ambitus alle gleich: authentisch – authentisch – authentisch oder plagal – plagal – plagal, da der abweichende Schlüssel im Notensystem fast eine Oktave tiefer liegt. Für den Fall, dass die beiden Schlüssel näher beieinander liegen (SSA, VVM), gilt, dass die im Schlüssel abweichende Stimme den anderen Ambitus hat. Also: authentisch – authentisch – plagal oder plagal – plagal – authentisch.
Ambitus
- Die Ambitus können bedenkenlos über- oder unterschritten werden, solange sie in der alten Schlüsselung maximal eine Hilfslinie erfordern.
- Es kommt gelegentlich vor, dass der Ambitus weder authentisch noch plagal ist. In diesem Fall sollte sich die Skala trotzdem mehr oder weniger über eine Oktave erstrecken.
- Der plagale Ambitus von Phrygisch ist versetzt auf c – c.
Die Verwendung eines Textes oder cantus firmus gestaltet sich relativ frei, solange grammatikalisch logisch mit dem Text umgegangen wird, trotzdem gibt es einige Tendenzen:
- In der initialen (Vor-)Imitation wird in den Nebenstimmen ohne cantus firmus bis zur ersten Kadenz häufig die erste Textzeile, oder Teile davon, wiederholt.
- Die letzte Textzeile oder die letzten Worte können am Ende noch einmal in freiem Kontrapunkt und ohne cantus firmus wiederholt werden. Es ist auch möglich, die komplette letzte Verszeile inklusive der Musik zu wiederholen.
- Innerhalb der Psalmlieder werden Wiederholungen ganzer oder partieller Textzeilen sehr oft angewandt, um sicherzustellen, dass nie eine Stimme dem Text der anderen zu weit voraus ist.
- Dies kann jedoch auch mithilfe von Pausen erreicht werden, in manchen Fällen sogar innerhalb einer Textzeile.
- Im Gegensatz dazu kommt es in seltenen Fällen auch vor, dass Textzeilen weggelassen werden.
- Oft werden zwei Verszeilen miteinander verknüpft, indem eine Stimme schon vor der abschließenden Kadenz einer Textzeile mit der nächsten Verszeile beginnt. Meistens wird dies mit einer Kadenzflucht verbunden.
Der Umgang mit einem cantus firmus, falls einer für eigene Stilkopien gegeben ist, kann sehr locker gehandhabt werden. Den cantus firmus zu verwenden, oder sich an ihm zu orientieren, bietet sich an als praktische Hilfestellung für die Wahl der Ambitus, Stimmendispositionen, Imitationen, kleinen Soggetti für Imitationen innerhalb des Psalmliedes und den Modus.
- Der gegebene cantus firmus kann rhythmisch verändert werden. Häufig werden Semibreven in Minimae geändert oder umgekehrt.
- Pausen zwischen den Verszeilen können beliebig verlängert oder verkürzt werden.
- Melismen und andere kurze Abweichungen können in den cantus firmus eingebaut werden.
- Es ist möglich, den cantus firmus von Verszeile zu Verszeile durch unterschiedliche Stimmen wandern zu lassen.
- Es können auch nur einzelne Verszeilen aus dem cantus firmus übernommen werden. Die anderen Zeilen können sich dann am Gestus (z.B. an der Richtung der Intervalle) orientieren oder komplett frei erfunden sein.
Kadenzen formen und strukturieren die Musik in Einheiten auf eine ähnliche Weise, wie die Interpunktion Texte in logische Sinneinheiten gliedert. Kadenzen finden sich daher in der Musik prinzipiell an den gleichen Stellen, an denen in der textlichen Vorlage die Satzzeichen stehen.
Kadenzstufen
- Kadenzen innerhalb eines Psalmliedes können grundsätzlich in allen Stufen schließen, außer die Stufe hat eine verminderte Quinte. So kann in Dorisch z. B. keine Kadenz auf der VI-Stufe schließen.
- Bei Kadenzen ist in der Sopranklausel darauf zu achten, dass kein Akzidens gesetzt wird, der zu weit vom hexachordum naturale entfernt ist. Aus diesem Grund gibt es in den regulären Modi kaum authentische Kadenzen nach e, da in diesem Fall das Vorzeichen dis notwendig wäre.
- In Dorisch ist die Kadenz auf der II-Stufe durchaus möglich, aber nur als phrygische Mi-Kadenz mit dem kleinen Sekundschritt in der Tenorklausel.
- In Phrygisch sind die VI- und die IV-Stufe am häufigsten, die VI-Stufe flieht jedoch in der Bassklausel oft trugschlüssig in die IV-Stufe. Die I-Stufe wird im phrygischen Modus ausschließlich durch eine plagale ④–①-Kadenz erreicht.
- Die Anzahl der Kadenzstufen in den verschiedenen Modi wird in der unteren Tabelle angegeben. Ist dort keine Zahl vermerkt, kann in dieser Stufe durchaus kadenziert werden. Im Allgemeinen ist in diesem Fall dort aber keine starke Tendenz feststellbar.
Modus | I | II | III | IV | V | VI | VII |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Ionisch | 1. | 3. | – | 2. | 3. | – | |
Dorisch | 1. | Mi | 3. | 2. | – | ||
Phrygisch | 3. | 2. | – | (1.) | |||
Mixolydisch | 1. | – | 2. | – | |||
Æolisch | 1. | – | 2. | – |
Kadenzarten
Es steht in den 50 Psalmliedern in der Regel nach jeder Verszeile eine Kadenz; das ergibt eine Gesamtanzahl von ca. 350 Kadenzen. Viele davon ähneln sich, aber jeweils in leicht anderen Varianten ausgeführt. Hier einige typische Kadenzen:
- Bassklausel im Bassus. Im Normalfall wird hier bei den anderen beiden Stimmen die Sopranklausel und die Tenorklausel gesetzt.
- Tenorklausel im Bassus. Die Bassklausel in einer der Oberstimmen ist untypisch, deswegen wird hier in den Oberstimmen oft die Sopranklausel und die Altklausel gesetzt.
- Cadenza doppia. Sie kommt entweder in ihrer normalen Form vor, bei der die penultima eine Brevis lang ist, aber manchmal auch doppelt so schnell. Oft wird sie verbunden mit einem Wechselquartsextakkord oder mit unterer Wechselnote in der Bassklausel auf der penultima.
- Cadenza semplice. Kommt oft vor und bietet sich gut für schwache Kadenzen innerhalb des Psalmliedes an, um die Verszeilen miteinander zu verbinden und den Einschnitt nicht zu stark zu setzen.
- Plagale Kadenzen. Kommen auch innerhalb der Psalmlieder vor, eignen sich aber am Ende besonders gut, um die Wiederholung der letzten Verszeile zu setzen. Dabei kommt zunächst eine authentische Kadenz, bei der der Cantus mit einer Longa liegen bleibt und die beiden anderen Stimmen einen Anhang singen, in dem am Ende eine plagale Kadenz folgt.
- Mi-Kadenz. Wird vor allem verwendet, um in d-Dorisch auf der II-Stufe zu kadenzieren.
Kadenzflucht
Die Kadenzflucht wird in unterschiedlichen Ausführungen sehr oft bei den Kadenzen innerhalb der Psalmlieder eingesetzt und ist ein geschicktes Mittel, um zwei Verszeilen miteinander zu verbinden.
- Alle Klauseln können die Auflösung bei der ultima fliehen und stattdessen in einen anderen Ton gehen.
- Eine schwächere Kadenzflucht bedeutet, dass die Klauseln schrittweise in eine «falsche» Richtung weitergeführt werden, eine stärkere, dass sie einen anderen Ton anspringen. Anstelle der ultima kann auch eine Pause gesetzt werden.
- Häufige Kadenzfluchten sind:
- Bassklauseln, in denen von der penultima trugschlüssig zur ultima schrittweise aufwärts weitergeführt wird.
- Bass-, Sopran- oder Tenorklauseln, bei denen die ultima durch eine Pause ersetzt wird.
- Sopranklauseln, bei denen die ultima nicht in den ersten Ton geht, sondern in die Terz darüber springt, auch in Dorisch (verminderte Quarte)!
- Tenorklausel, die bei der ultima schrittweise aufwärts in die Terz geführt wird.
- Seltener: Eine der Klauseln weicht so aus, dass ein Sextakkord entsteht anstelle einer ultima mit perfekten Intervallen.
- Es können auch zwei Klauseln gleichzeitig fliehen.
Imitationen sind ein gutes Grundgerüst, um eigenen Stilkopien eine Form und harmonische Anhaltspunkte zu geben, sie sind aber nicht notwendig für ein Psalmlied. Der cantus firmus kann auch komplett im freien Stil ausgesetzt werden.
- Der Kontrapunkt der zu den Soggetti gesetzt wird ist frei und muss nicht beibehalten werden.
- Die initiale Imitation zu Beginn des Stückes ist oft etwas ausgeprägter als kleinere Imitationen innerhalb des Psalmliedes.
- Weniger ausgeprägt sind Imitationen, wenn die Anzahl der Noten des zu imitierenden Soggettos veringert wird. Das kann soweit führen, dass nur noch zwei Töne des Soggettos übrig bleiben, z.B. ein charakteristisches Intervall. Es kann auch nur rhythmisch imitiert werden, nicht aber mit den entsprechenden Tonhöhen
- In der Regel besteht zwischen den Anfangstönen der Stimmeneinsätze das Verhältnis von 1. Ton einer Skala zu 5. Ton einer Skala. Dabei muss es sich nicht unbedingt – auch nicht in der initialen Imitation – um die Skala des Modus handeln, in dem das Psalmlied steht.
- Eine Imitation – auch die initiale – muss nicht zwingend mit den Anfangstönen der Stimmeneinsätze die finalis und den tenor des Modus (bzw. der Stufe) repräsentieren, in der die Verszeile schließt.
- Vorimitationen bieten sich an, um den Text nicht in der Stimme mit dem cantus firmus wiederholen zu müssen.
- Um zu vermeiden, dass innerhalb eines Psalmliedes eine zusätzliche, größer angelegte Imitation wieder in die Einstimmigkeit führt, kann in einer anderen Stimme das erste Soggetto frei kontrapunktiert werden, auch in der Stimme des cantus firmus.
- Imitationen können auch nur zwischen zwei Stimmen stattfinden, während die dritte frei kontrapunktiert oder als Gymel in Terzparallelen mit einer Stimme für kurze Zeit mitläuft.
- Soggetti müssen nicht unbedingt modal beantwortet werden.
Einige Satzmodelle sind möglich, sie stellen aber eher die Ausnahme dar. Es ist stilechter, im freien Kontrapunkt zu schreiben, in einem imitatorischen Stil oder auch in einer Mischung aus beiden.
- Fauxbourdon kommt dabei noch am häufigsten vor, ist aber trotzdem sehr selten. Er tritt fast nie als reine Kette von Sextakkorden auf, sondern mit einer 5-6-consecutive aufwärts oder mit einer 6-5-consecutive abwärts.
- Ein diatonisches Lamento von ① zu ⑤ mit der Dissonanten 7-6-consecutive findet sich in einem der 50 Psalmlieder.
- Selten – und wenn, dann vor allem vor Kadenzen und der cadenza doppia – werden zwei Synkopenketten auf Ebene der Semibreven hintereinander eingesetzt. In einem Fall sogar auf Ebene der Minimae und außerhalb einer Kadenz, dafür aber mit einer aufwändigen Harmonisierung, um Quintparallelen zur dritten Stimme zu vermeiden.
- Die Romanesca wird im Allgemeinen vermieden, wie auch deren harmonische Grundlage in imitationsfreien Passagen. Gelegentlich findet man kurze Anklänge eines 3-5-Satzes in zweistimmiger Gestalt.
Manche der Psalmlieder bieten sich besonders für ein genaueres Studium an, um die oben erklärten Kriterien zu veranschaulichen. Es folgt eine Auflistung einer repräsentativen Auswahl mit kurzer Erklärung:
- 7. Domine Deus meus: cantus firmus wechselt zwischen Bassus und Cantus, Vorimitation, Modus versus Anfangstöne der initialen Imitation, Melismen in initialer Imitation, neu angesetzte Imitation bei daß er nicht nach des Löwen Weis
- 12. Usquequo Domine: lange initiale Imitation, Modus versus Anfangstöne der initialen Imitation, Textwiederholungen und Wiederholung im cantus firmus, Kadenzflucht, Vermeiden von Quintparallelen mit Quartsextvorhalt, Textverteilung bei Melismen
- 13. Dixit insipiens: sehr regelmäßiges Psalmlied (Stimmendisposition, Ambitus und Ambitusüberschreitungen)!, Modus versus Anfangstöne der initialen Imitation, unterschiedliche Imitationen mit wenigen und mehreren Noten der Soggetti
- 15. Conserva me Domine: Klare Kadenzen, cantus firmus-Behandlung mit unterschiedlichen Transpositionen, Anfansimitation mit drei verschiedenen Starttönen
- 18. Cæli enarrant: Ambitus, modale Beantwortung bei die große Herrlichkeit des Herren, abgesprungene Kadenzflucht aus Sopranklausel, Akzidentien, pikardische Terz ist der finalis vorweggenommen
- 23. Domini est terra: verschiedene Imitationen, modale Beantwortung, trugschlüssige Kadenzflucht in Bassklausel, Wiederholung der letzten Verszeile (Text)
- 26. Dominus illuminatio mea: Unterbrechungen des Textes durch Pausen, abgesprungene Kadenzflucht aus Tenorklausel, Kadenzflucht einer Sopranklausel mit Melisma in Semiminimae, modale Beantwortung bei mit Schrecken grauen
- 27. Ad te Domine clamavi: cadenza doppia, exemplarisch für Kadenzflucht, Halbschluss, Satzmodell Fauxbourdon mit Seitenbewegung aufwärts und abwärts, Kadenz in der zwei Klauseln mit einer Pause geflohen werden
- 28. Afferte Domino: cadenza doppia (schnell in Semiminimae und langsam in Semibreven), modale Beantwortung, Unterbrechungen des Textes durch Pausen, Oktavregel-Ausschnitt (③ – ④ – ⑤ – ⑥ – ⑦ – ①)
- 29. Exaltabo te, Domine: cantus firmus-Behandlung, Melisma mit Terzsprüngen, Synkopenkette, Kadenzflucht einer Altklausel (Sextakkord), abgesprungene Kadenzflucht aus Sopranklausel
- 30. In te Domine speravi: unterschiedliche Textwiederholungen, Wiederholung der Imitation, Melisma in Minimae und Semiminimae, Mi-Kadenz, Sopranklausel im Bassus
- 33. Benedicam Dominum: sehr regelmäßiges Psalmlied (Stimmendisposition, Ambitus und Ambitusüberschreitungen)!, Beginn im freien Kontrapunkt ohne Imitation, Kadenzflucht in Bass- und Tenorklausel mit Pause, trugschlüssige Bassklausel